dehnen sinnvoll
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Geschrieben von Vivian Gläsel

Ich bin Physiotherapeutin seit 2014 und Gründerin von "Funktionelle Fußtherapie Vivian Gläsel". Ich bin Physio, Fußcoachin & Dozentin aus Leidenschaft und helfe Menschen, die Probleme mit ihren Füßen haben, zu einem aktiven und schmerzfreien Leben - ganz ohne Operation.
30. April 2021

Ist Dehnen sinnvoll? Interview mit Vienna Kinstretch

Ist Dehnen sinnvoll oder nicht?

Ich bin mir sicher, du hast schon mal das Bedürfnis verspürt dich zu dehnen, oder? Sei es nach dem Laufen, vor oder nach dem Training, oder nach einem langen Tag am Schreibtisch. Aber bringt das wirklich was? Wird dein Muskel “länger”, wenn du ihn dehnst?
Über dieses spannende Thema habe ich mich mit Maria und Julia von Vienna Kinstretch ausgetauscht. Du bekommst hier also nicht nur meine Sichtweise, sondern auch die von zwei erfahrenen Ex-Yogalehrerinnen.

Los geht’s mit dem Interview!

 

 

Vivi: “Wer kennt nicht die Aussage: “Spanne deinen Bauch an, um deinen Rücken zu stabilisieren oder zu schützen”. Das ist eine völlig veraltete Ansicht, aber ich finde dieses Thema extrem spannend. Was würdet ihr sagen ist an dieser Aussage problematisch?”

Julia: “Ich finde immer den Vergleich mit Reifen super. Wenn wir einen Winterreifen mit richtig gutem Profil und einen Sixpack vergleichen. Wir denken automatisch, das super Profil des Reifens wird uns helfen, im Winter den Berg hinauf zu fahren. Aber das Problem ist, wenn keine Luft in diesem Reifen ist, nützt mir das beste Profil gar nix. Ich kann ja nicht auf den Felgen den Berg hinauf fahren.
Mit der Core-Stabilität ist es ähnlich. Nur weil ich ein Sixpack habe, heißt das nicht, dass es mir auch nützlich sein kann. Es ist nicht so, dass die Muskulatur keinen Wert hat. Das Profil vom Reifen ist interessant, aber was viel interessanter ist, ist die Luft, die im Reifen ist. Die wird entscheiden, ob ich das Reifenprofil aka mein Sixpack nutzen kann oder nicht.”

Maria: “Dafür braucht man einen Brustkorb und ein Becken, die gut gestapelt sind, also übereinander positioniert. Das ist oft nicht der Fall. Wenn der Brustkorb vorne geweitet und mein Becken nach vorne gekippt ist, dann bin ich in so einer offenen Schere und habe keine Möglichkeit Druck zu halten, bzw. meine Muskulatur richtig zu nutzen.”

Julia: “Das Problem ist nicht, dass diese Position schlecht ist, sondern, dass diese Position oft die einzige Position ist. Das ist der Punkt, an dem die Probleme beginnen aufzutreten.

Wir sind keine Verfechter von: Das Leben passiert in einer neutralen Haltung und man ist immer übereinander gestapelt. Aber die Frage ist: Kann ich überhaupt irgendwann mal in diese neutrale Position kommen oder lebe ich in einer Rückbeuge?

Es passiert bei vielen von uns, dass wir in dieser Rückbeuge leben. Unser Körper hat dann nur die eine Option und wir wundern uns, warum wir körperliche Probleme bekommen. Anstatt viele Positionen zu haben, um quasi unserem Alltag, der in sehr vielen Positionen passiert, gerecht zu werden, bewegen und halten wir unseren Körper recht einseitig.”

Vivi: “Genau. Um dazu ein verständliches Bild zu malen: Stelle dir das Zwerchfell wie eine ovale Pizza vor, die fest, aber beweglich ist. Das Becken kannst du dir wie eine Schüssel vorstellen, die mit Wasser gefüllt und nach oben hin geöffnet ist. Wenn diese Schüssel nach vorne gekippt ist, dann stehst du im Hohlkreuz. 

Was mit dieser offenen Schere gemeint war, ist, anstatt dass Becken und Schüssel übereinander gestapelt sind, wird die Schüssel nach vorne ausgekippt. Das bedeutet, vorne läuft das Wasser raus, auf eure Zehen sozusagen. 

Ihr steht im Hohlkreuz. Das Zwerchfell – oder diese Pizza – ist nach vorne oben geneigt. Das heißt, Becken und Zwerchfell stehen nicht parallel übereinander, sondern, wie Maria schon sagte, in dieser Schere. Wenn man permanent in diesem Hohlkreuz bzw. wie Julia gesagt hat, in dieser Rückbeuge lebt und die vordere Muskulatur nicht dazu benutzen kann, dass man wieder in diesen “Stapel” kommt, lebt man quasi in in seiner Rückbeuge oder in seinem Hohlkreuz.

Ein Teil eurer Membership sind Übungen, die sich CARs (controlled particular rotations), oder zu deutsch kontrollierte Gelenkskreise nennen. Bei diesen Übungen geht es darum, Gelenke so zu bewegen, dass sie schmerzfrei wieder in ihre größtmögliche Bewegungsfreiheit gebracht werden. Dadurch wird ebenfalls die funktionelle Reichweite oder Bewegungsgröße des Gelenks trainiert. 

Wie unterscheiden sich CARs vom Thema Dehnen? Und warum ist statisches Dehnen nicht sinnvoll? Das heißt, wir müssen uns eigentlich gar nicht darüber unterhalten ob man sich vor oder nach dem Sport dehnt, sondern vielleicht müsste man eher fragen: Warum führst du eine Sportart aus, die dein Gelenk in nur einer bestimmten Position nutzt, sodass du dich dehnen musst, weil du sonst “verkürzt”? Maria, magst du eintauchen in das Thema: Warum, CARS und warum nicht statisches Dehnen?”

Maria: “Ja, gerne. Fangen wir an bei CARs. Im Prinzip geht es darum, einerseits den Bewegungsraum, den ich habe (der ist bei jedem Menschen unterschiedlich) zu erhalten. Um ihn zu erhalten, müssen wir ihn benutzen. CARs sind unserer Meinung nach das Beste, was bisher dazu erfunden wurde. Indem wir das Gelenk nach dem Prinzip “use it or lose it” durch den gesamten Bewegungsraum regelmäßig, sprich täglich, führen, kann der Radius erhalten werden. Das ist ein Zweck von CARs.

Wir können sie aber auch als Assessments Tools benutzen. Denn wenn ich jemandem beibringe, wie er seine Schulter durch den gesamten Bewegungsraum durchführt, und ich sehe, dass dieser Bewegungsraum in gewisse Richtungen relativ klein ist, dann gibt mir das schon einige Hinweise, wo Limitierungen sind.

Das ist das Eine. Das Andere ist die Pflege der Gelenke oder Nahrung ins Gelenk zu bringen. Das einzige, was wir machen können, um Gelenke mit Gelenkflüssigkeit usw. zu nähren, ist Bewegung. Wir brauchen Bewegung, um unsere Gelenke geschmeidig zu halten.

Ich glaube ein Missverständnis, das viele Menschen haben wenn es um Beweglichkeit geht ist, dass diese Beweglichkeit auf magische Art und Weise weniger wird wenn wir älter werden. Dem ist nicht so! Wir verlieren nur Beweglichkeit, wenn wir etwas nicht nutzen. Es kostet den Körper Energie, einen Bewegungsraum zu erhalten. Sagen wir mal, ich kann meine Schulter in einem bestimmten Radius bewegen. Wenn ich das nicht regelmäßig tue, sende ich meinem Körper ein Signal, dass ich diesen Bewegungsraum nicht brauche. Der Körper wird diese Fähigkeiten loswerden, weil warum sollte er Kalorien für etwas ausgeben, das nicht genutzt wird?
Ich glaube, dass Dinge wie CARs durch die fancy Namen sehr kompliziert wirken, dabei sind sie relativ simpel auszuführen.”

Vivi: “Ja genau. Und es braucht Energie um Beweglichkeit im Gelenk zu haben. Es gibt ja nicht nur das Gelenk und es sind nicht nur zwei Knochen, sondern es gibt auch eine Kapsel. Und diese Kapsel muss auch versorgt werden vom Körper und das braucht Energie. Und es gibt Bänder, die versorgt werden müssen und Muskulatur etc.. Dafür müssen wir etwas tun und unseren Körper bestmöglich unterstützen!”

Maria: “Zum zweiten Teil von deiner Frage zum Thema Dehnen: Wenn mein Ziel ist, meine Beweglichkeit zu erhalten und mein Gelenk mit Nahrung und Durchblutung zu versorgen, dann kann Dehnen diesen Zweck nicht erfüllen. Das heißt nicht, dass wir generell gegen Dehnen sind. Es gibt Situationen, wo Dehnen Sinn macht.

Ich glaube, es wird viel zu wenig hinterfragt, wann dehnen sinnvoll ist. Es wird oft wahllos, planlos, irgendein Gewebe gedehnt. Einfach nur aufgrund dessen, dass man das Gefühl hat, dass sich etwas eng oder kurz anfühlt. Wir versuchen mit unserer Membership aber auch mit unseren Klient:innen dort anzusetzen, um diese grundlegenden Prämissen, mit denen viele Menschen ans Training herangehen, zu hinterfragen und zu erneuern.”

Julia: “Ja. Also ich glaube, das ist schon der Punkt, dass man denkt, etwas fühlt sich verkürzt an. Dann ist mein erster Impuls, es länger zu machen. Aber die Länge des Muskels verkürzt oder verlängert sich gar nicht. Da macht unsere Sprache etwas mit uns. Und ich glaube, deswegen wird so gern und unhinterfragt gedehnt. Es wirkt so simpel: Etwas fühlt sich kurz oder eng oder unangenehm an, dann dehne ich es, damit dieses Gefühl vorbei ist.

Stattdessen sollten wir hinterfragen: Warum, fühlt sich etwas immer verkürzt an? Warum immer an der gleichen Stelle? Bei vielen Menschen ist es immer die gleiche Stelle, die sich verkürzt anfühlt. Warum habe ich dauernd das Gefühl, dass ich etwas dehnen muss?

Manchmal kann auch die Antwort sein, dass dieser Muskel oder diese Muskelpartie, die dauernd gedehnt werden will, nicht kräftig genug ist. Oder vielleicht passt etwas mit meiner neurologischen Kontrolle nicht und ich kann dieses Körperteil nicht gut ansteuern, weshalb sich dieser Teil ständig unter Zug anfühlt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass dieses verkürzte Gefühl, nur ein Gefühl ist. Es ist nicht in Stein gemeißelt, dass dieser Muskel kurz ist. Sondern es ist ein Gefühl und aufgrund von diesem Gefühl kann man diese Körperregionen anschauen und evaluieren. Mit Tests wird man herausfinden, welche von den Möglichkeiten Dehnen, Kräftigen, Atmen, neu positionieren die richtige Antwort sein wird.”

Vivi: “Genau. Ich denke oft ist dieses Missverständnis, dass das, was wir fühlen, was unseren Körper betrifft, gar nicht immer die Realität ist, sondern wir Informationen unseres Körpers in einer bestimmten Weise wahrnehmen. Das muss man wissen, um damit umgehen zu können.

Du hast vorhin gesagt, dass der Muskel sich nicht tatsächlich verlängert. Es ist noch nicht allgemein verbreitet, dass ein Muskel, wenn man ihn dehnt, nicht länger wird. Es ist nicht so, dass ein Muskel länger wird, wenn man ihn dehnt, sondern die Schmerztoleranz verändert sich.”

Julia: “Ja. Die Toleranz Dehnung und Schmerz auszuhalten verändert sich. Es ist viel komplizierter als zu denken: Ich dehne etwas und dann wird es länger. Deswegen ist es so schwierig, das in die Köpfe der Menschen hineinzubringen. Es ergibt viel mehr Sinn zu sagen, etwas ist eng oder kurz und ich kann es durch Dehnen verlängern. Was sich dabei verändert, ist aber die Toleranz, die ein Gewebe aufbaut, je nachdem welchen Input wir geben.”

Vivi: “Und es kann sich auch innerhalb von Sekunden durch die richtige Ansprache des Gehirns verändern. Es ist nicht so, dass Dehnen immer lange dauern muss.”

Maria: “Das Absurde ist oftmals, dass viele Menschen glauben, dass sie etwas dehnen müssen. Ich habe etwa ein Jahrzehnt lang geglaubt, ich muss meine Hamstrings, die Oberschenkelbeinrückseiten dehnen. Ich glaube, viele Menschen tun das noch. Das Ding ist aber, dass meine Hamstrings, so wie 99 Prozent der Hamstrings der Menschen mit denen ich arbeite,  schon in einer exzentrischen Orientierung sind. Das bedeutet im Prinzip, dass sie in einer langen Position sind.”

Kommt dir diese Aussage auch bekannt vor? Dann kannst du dich schon auf den nächsten Artikel und gleichzeitig letzten Teil des Interviews mit Maria und Julia freuen. Ich hoffe dieser Artikel hat dir geholfen und dir ein etwas besseres Verständnis darüber gegeben, wann dehnen sinnvoll ist und was dabei überhaupt passiert. Wenn du Fragen zu dem Thema hast, schreibe sie in die Kommentare.

Alle Infos zu Julia und Maria findest du auf ihren Websiten. Den ersten Teil unseres Interviews kannst du hier lesen. Folge mir gerne auf Instagram, um noch mehr Tipps und Tricks für deine Gesundheit zu bekommen. Ich freue mich auf dich!

Viele Grüße an die Füße,
Vivi

 

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